Fiktive Abrechnung - Besonderheiten bei den Stundenverrechnungssätzen

Einleitung

Bei einer fiktiven Abrechnung schuldet der Unfallverursacher bzw. dessen Haftpflichtversicherung den Ersatz der Herstellungskosten bereits vor Durchführung der Reparatur und unabhängig von deren Durchführung. Der Geschädigte muss sein Fahrzeug also nicht zwingend reparieren lassen. 
Hier sind die marktüblichen Herstellungskosten auf der Grundlage eines Kostenvoranschlages oder eines Sachverständigengutachtens zu ermitteln. Zu beachten ist hier, dass die Umsatzsteuer nur nach § 249 Abs. 2 Satz 2 BGB zu verlangen ist, wenn diese tatsächlich angefallen ist.

Besonderheiten bei den Stundenverrechnungssätzen

Die Stundenverrechnungssätze werden von der gegnerischen Haftpflichtversicherung bei der fiktiven Abrechnung häufig gekürzt. Es wird hier auf die Stundenverrechnungssätze von freien Werkstätten verwiesen. Hierzu gibt es umfangreiche Rechtsprechungen aller Gerichte. Im Weiteren soll das Urteil des BGH vom 13.07.2010 näher erläutert werden, welches sich mit dieser Problematik tiefgründig befasst hat und die bisherige Rechtsprechung des BGH fortführt.

Das „A-Klasse-Urteil“ oder „Eurogarant-Urteil“ des BGH vom 13.07.2010

I. Urteil des BGH vom 13.07.2010, Az.: VI ZR 259/09

a) Der Schädiger kann den Geschädigten unter dem Gesichtspunkt der Schadensminderungspflicht gemäß § 254 Abs. 2 BGB auf eine günstigere Reparaturmöglichkeit in einer mühelos und ohne Weiteres zugänglichen "freien Fachwerkstatt" verweisen, wenn er darlegt und gegebenenfalls beweist, dass eine Reparatur in dieser Werkstatt vom Qualitätsstandard her der Reparatur in einer markengebundenen Fachwerkstatt entspricht, und wenn er gegebenenfalls vom Geschädigten aufgezeigte Umstände widerlegt, die diesem eine Reparatur außerhalb der markengebundenen Fachwerkstatt unzumutbar machen würden.
b) Für die tatrichterliche Beurteilung der Gleichwertigkeit der Reparaturmöglichkeit gilt auch im Rahmen des § 254 Abs. 2 Satz 1 BGB das erleichterte Beweismaß des § 287 ZPO.
BGH, Urteil vom 13. Juli 2010 - VI ZR 259/09 - LG Frankfurt am Main 

II. Sachverhalt

Nach einem Unfall begehrt die Klägerin Ersatz restlicher Schadensersatzansprüche. In diesem Verfahren streiten sich die Parteien um eine fiktive Abrechnung. Zum Unfallzeitpunkt war das Fahrzeug, ein Mercedes-Benz A 140, sieben Jahre alt. Nach dem erstatteten Schadensgutachten betrugen die Stundenverrechnungssätze auf der Basis einer Mercedes-Werkstatt 1.363,64 Euro. 
Die Beklagte kürzte die im Rahmen fiktiver Abrechnung geltend gemachten Stundenverrechnungssätze einer markengebunden Fachwerkstatt auf niedrigere Stundenverrechnungssätze. Sie verwies hier auf eine benannte freie Karosseriefachwerkstatt in ihrem Prüfbericht, welcher günstigere Stundenverrechnungssätze aufweist. Bei der genannten freien Fachwerkstatt handelt es sich um eine Werkstatt, die den „Eurogarant-Fachbetrieben“ angehört. Der Prüfbericht weist drei Karosseriefachbetriebe auf. Es wurde hier der teuerste Stundenverrechnungssatz der Werkstätten angenommen. 
Die Differenz betrug 442,01 €. Die Klage ist in den Vorinstanzen erfolglos geblieben. Auch die zugelassene Revision blieb erfolglos. 

III. Fazit aus dem Urteil des BGH

Der Geschädigte leistet dem Gebot der Wirtschaftlichkeit im Allgemeinen Genüge, wenn er der Abrechnung die üblichen Stundenverrechnungssätze einer markengebunden Fachwerkstatt zugrunde legt, die ein Sachverständiger auf dem regionalen Markt ermittelt hat. 
Der Schädiger kann aber dem Geschädigten unter dem Gesichtspunkt der Schadensminderungspflicht gem. § 254 Abs. 2 BGB auf eine günstigere Reparaturmöglichkeit in einer mühelos und ohne Weiteres zugänglichen „freien Fachwerkstatt“ verweisen. 
Der Schädiger muss aber darlegen und ggf. beweisen, dass eine Reparatur in dieser Werkstatt vom Qualitätsstandard her der Reparatur in einer markengebundenen Fachwerkstatt entspricht. 
Der Schädiger muss zudem vom Geschädigten aufgezeigte Umständewiderlegen, welche dem Geschädigten eine Reparatur außerhalb der markengebundenen Fachwerkstatt unzumutbar machen würden. 

IV. Fälle, in denen die Verweisung unzumutbar ist

  • Wenn die nachgewiesene Reparaturmöglichkeit vom Qualitätsstandard nicht gleichwertig ist.
  • Wenn Gewährleistungs-, Garantie- oder Kulanzverluste drohen – wenn die Reparatur nicht in einer markengebundenen Fachwerkstatt durchgeführt wird.
  • Wenn die Preise der freien Werkstatt auf Sonderkonditionen mit der Versicherung des Schädigers beruhen.
  • Wenn das verunfallte Fahrzeug nicht älter als drei Jahre ist.
  • Wenn das beschädigte Fahrzeug scheckheftgepflegt ist und während der Besitzzeit des Geschädigten ständig in der Markenfachwerkstatt gewartet und repariert wurde.
  • Wenn die „freie Fachwerkstatt“ nicht mühelos und ohne Weiteres zugänglich ist.

V. Technische Gleichwertigkeit der Reparatur

Die technische Gleichwertigkeit besteht bei Fachbetrieben, welche den „Eurogarant-Fachbetrieben“ angehören. Der Qualitätsstandard wird hier regelmäßig vom TÜV oder von der DEKRA kontrolliert. Hierbei handelt es sich um Meisterbetriebe und Mitgliedsbetriebe des Zentralverbandes Karosserie- und Fahrzeugtechnik, die auf die Instandsetzung von Unfallschäden spezialisiert sind. Zudem erfolgt die Reparatur nach dem unbestrittenen Beklagtenvortrag unter Verwendung von Originalteilen. Die Klägerin hätte hier im Instanzenzug vortragen müssen, dass dennoch keine Gleichwertigkeit der zwischen den „Eurogarant-Fachbetrieben“ und der markengebundenen Fachwerkstatt vorliegt. Die Beklagte hätte in diesem Fall beweisen müssen, dass eine Gleichwertigkeit zwischen den beiden Werkstätten gegeben ist. Da dies in diesem Prozess nicht erfolgt ist, mussten die Berufungsrichter davon ausgehen, dass die benannten „Eurogarant-Werkstätten“ bzw. freien Werkstätten genau so reparieren können wie die markengebundenen Fachwerkstätten. 
Ein Bagatellschaden bei einem sieben Jahre alten Fahrzeug rechtfertigt nicht zwingend eine Reparatur in einer markengebundenen Fachwerkstatt. Für die Behebung des Bagatellschadens sei kein besonderes Fachwissen einer markengebundenen Fachwerkstatt erforderlich. Dies ergibt sich auch aus dem Umstand, dass das Fahrzeug der Klägerin nach dem Sachverständigengutachten für die Lackierarbeiten in eine gesonderte Lackiererei verbracht werden sollte. Die Klägerin hätte hier besondere Umstände darlegen müssen, warum sie ein besonderes Interesse an einer Reparatur des Bagatellschadens in einer Vertragswerkstatt haben könnte. 

VI. „Freie Fachwerkstatt“ muss mühelos und ohne Weiteres zugänglich sein

Hier wird auf die Umstände des Einzelfalls abgestellt. Im Urteil wird ausgeführt, dass sich die benannten Fachwerkstätten im unmittelbaren Einzugsbereich von Frankfurt am Main befänden. Es wäre für den Geschädigten ohne weiteres möglich und auch zumutbar gewesen, eine dieser Werkstätten aufzusuchen. Der Einwand des Geschädigten, dass sich die Werkstätten „nicht am Sitz der Klägerin“ befinden, greift hier nicht durch.

Resümee

Zertifizierungen und Mitgliedschaften der „Freien Werkstätten“ sowie die Verwendung von Originalersatzteilen spielen eine weitere Bedeutung in dieser Rechtsprechung. 
Der Sachverständige darf bzw. muss weiterhin in seinem Gutachten die Stundenverrechnungssätze der markengebundenen Fachwerkstatt zugrunde legen. 
Will der Schädiger den Geschädigten unter dem Gesichtspunkt der Schadensminderungspflicht im Sinne des § 254 Abs. 2 BGB auf eine günstigere Reparaturmöglichkeit in einer mühelos und ohne Weiteres zugänglichen "freien Fachwerkstatt" verweisen, muss der Schädiger darlegen und ggf. beweisen, dass eine Reparatur in dieser Werkstatt vom Qualitätsstandard her der Reparatur in einer markengebundenen Fachwerkstatt entspricht (so BGH, Urteil vom 20. Oktober 2009 - VI ZR 53/09). 
Dies bedeutet, dass der Schädiger überprüfbare Angaben tätigt, u.a. ob es sich um einen Meisterbetrieb handelt und ob die Werkstattmitarbeiter nach den Herstellerangaben geschult werden usw. Es reicht also nicht aus, dass der Schädiger behauptet, dass die Werkstätten gleichwertig sind, sondern auch Angaben macht, die die qualitative Gleichwertigkeit beweisen. Diese Angaben muss der Schädiger bereits vorprozessual darlegen. Denn dem Geschädigten muss vorgerichtlich die Möglichkeit eingeräumt werden, zu den vom Schädiger benannten Konditionen die Reparatur durchführen zu lassen, ohne noch weitere eigene Erkundigungen durchführen zu lassen. 
„Eurogarant-Fachbetriebe“ sind nicht prinzipiell gleichwertig mit einer Fachwerkstatt. 
Auch Zertifizierungen des TÜV oder der DEKRA reichen alleine als Beweismittel nicht aus. 
Im Einzelfall muss der Schädiger zur Gleichwertigkeit der Werkstätten folgende Punkte darlegen und beweisen:

  • Schadensumfang (Bagatellschaden)
  • Know-how der freien Karosserie- und Lackierwerkstätten
  • Spezialisierung der Mitarbeiter
  • das Vorhalten von Original-Ersatzteilen
  • Spezialwerkzeug und Konstruktionspläne
  • Schulungen des Personals in herstellergebundenen Schulungszentren

Nur anhand dieser Angaben des Schädigers kann der Geschädigte sich entscheiden, ob er den angebotenen Reparaturweg des Schädigers annehmen will, um einen mit einer markengebunden Fachwerkstatt gleichwertigen Reparaturerfolg zu garantieren. 
Der Geschädigte sollte ggf. im Prozess die Einholung eines Sachverständigengutachtens zu der Frage der Gleichwertigkeit beantragen, um substanzielle Einwendungen erheben zu können. 
Alle diese vorbenannten Punkte sind für einen Laien allein schwer durchzusetzen, daher sollte man sich nach einem Unfall an einen qualifizierten Rechtsanwalt wenden, um alle Möglichkeiten des Schadenausgleiches abklären zu lassen bzw. alle berechtigten Ansprüche durchsetzen zu können. Wir beraten Sie hierzu gern ausführlich.